Notenarchiv des Bad Nauheimer Kur- und Sinfonieorchesters archiviert | © Magistrat
bürgernah

„Einen Teil des Gedächtnisses der Stadt gesichert“

Notenbestand der Bad Nauheimer Kur- und Sinfonieorchester inventarisiert und archiviert
3. Juli 2020

Die Schlüssel sind übergeben. Von Johannes Lenz an Jochen Mörler. Ein symbolischer Akt. Mit der Weitergabe der Türöffner ist die einjährige Arbeit einer studentischen Hilfskraft und die anschließende sechsjährige Beschäftigung des ehemaligen Leiters des Fachbereichs Kultur Bad Nauheim an seinen Nachfolger, den Leiter des Fachbereichs Soziales, Gesundheit, Kultur und Sport abgeschlossen: die Inventarisierung und Archivierung des Notenarchivs der Bad Nauheimer Kur- und Sinfonieorchester. Mehr noch: „Mit der Archivierung ist ein Teil des städtischen Gedächtnisses gesichert und damit für die Zukunft erhalten worden“, so Bad Nauheims Erster Stadtrat und Kulturdezernent Peter Krank.

Die Archivierung, eine Kompetenz- und Konzentrationsarbeit. Galt es doch die Notensätze aus mehr als einhundert Jahren „Kurmusik“ zunächst einmal zu sichten. Sie dann zu ordnen, zu systematisieren und digital zu inventarisieren. Dann klassisch, also als Hardware. Heißt konkret in 699 Kartons zu verpacken und in 140 Regalfächern zu lagern. In ihnen stecken die Notenblätter für jedes dokumentiert gespielte Stück, für alle Instrumente, die zum Einsatz kamen. Macht also: Eine kaum vorstellbare Zahl an Notenblättern, von denen Johannes Lenz jedes einzelne in der Hand hatte. Eine mitunter „unglaublich staubige Angelegenheit“, so Lenz. Nun sind sie Säure- und Licht geschützt verwahrt. Zum Vorschlag von Johannes Lenz, die Daten der Musikalienbibliothek Leipzig zur Verfügung zu stellen, Peter Kranks spontane Antwort: „Das werden wir machen.“

Noten, wäre das nicht nur Papier aus alten Tagen, das hätte entsorgt werden können? Mitnichten. Johannes Lenz holte zu Beginn des Projektauftrags mit dem Titel „Erschließung des Repertoires und des Bestands der Notensammlung der Kurorchester in Bad Nauheim“ mehrere Stellungnahmen ein. Beeindruckt von der Fülle und der Gefährdung des Notenbestands wurden namhafte Vertreter des Hessischen Staatsarchivs, der Bibliothek der Goethe Universität Frankfurt und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt angesprochen und um Beratung gebeten. Das klare Votum von zum Beispiel Professorin Dr. Daniela Philippi vom musikalischen Institut der Goethe Universität: „Unbedingt retten.“ Wie hoch das Vorhaben von wissenschaftlicher Seite eingeschätzt wurde, zeigt auch, dass die Studentin Julia Alice Hoffmann aus Offenbach in 2015 eine Magisterarbeit zur „Musikauswahl und -pflege des Kur- und Sinfonieorchesters Bad Nauheim in den 1920er bis 1960er Jahren“ vorlegte.

Doch zurück zum Notenarchiv des Kurorchesters, respektive der Kurorchester, denn es waren, versteht sich, über die Jahrzehnte verschiedene, die für die Unterhaltung der Kurgäste ebenso wie für Bewohner von Stadt und Region aufspielten (siehe Info-Kasten). Zunächst waren es die Notensätze aus dem Archiv des Hessischen Staatsbades, die im Badehaus 6 lagerten und die es zu sichten und zu ordnen galt. Eine Sammlung aus circa 730 Musikwerken, die „weder einsatzfähig, noch musik- und kulturhistorisch auswertbar waren.“ Zudem in keinem guten Zustand. Senkrecht gelagert und wenig geschützt, hatte der Zahn der Zeit an ihnen „nagen“ können. Im zweiten Abschnitt der Archivarbeit galt es die Bestände des langjährigen Leiters des Kurorchesters Jànos Kekesi zu ordnen. Notenblätter, die für einzelne Konzerte in kleinerer Besetzung aus dem Bestand entnommen worden waren, mussten neu beziehungsweise in die ursprünglichen Sätze wieder eingeordnet werden. Das Ergebnis heute: die 6099 Notensätze sind in 29 Kategorien erfasst. An der Spitze der am meist gespielten Stücke stehen, wie Jochen Mörler jetzt auf einen Blick erkennen kann: mit 744 Werken die Walzer. Gefolgt von der Darbietung von 734 Ouvertüren und 493 Märschen. Die, so könnte man meinen, besonders von einem Kurorchester zu erwartete Salonmusik bringt es nur auf 32 Stücke. „Was allerdings nicht heißt, dass die Musiker keine Salonmusik gespielt haben. Nur war sie nicht unter dieser Rubrik zu archivieren.“

Überhaupt geht es bei dem Notenarchiv nicht um spektakuläre Zahlen, sondern „um die Sicherung von Dokumenten, die zur Historie der Kurstadt und damit unserer Stadt gehören“, so Peter Krank. Nicht zuletzt, weil „im Sinne der von Medizinern der Musik zugesprochenen heilenden Wirkung auf die Menschen, hier stets eine Rolle gespielt hat“. Und dies auch weiterhin tun wird. Denn um das Prädikat eines Kur- und Heilbades zu erhalten, gehört ein regelmäßiges musikalisches Angebot für Kranke, Genesende wie Gesunde. Das gewährleisten heute Lehrkräfte, Gäste und Gastensembles der Musikschule Bad Nauheim mit ihren Darbietungen in der Konzertmuschel oder auch im kleinen Konzertsaal. Dabei ist ihr Repertoire längst nicht mehr auf Märsche und Walzer beschränkt, sondern eröffnet dem Publikum den Zugang zu vielen Musikstilen. Kuren oder heute viel mehr ein Reha-Aufenthalt und dabei die Melodien eines „Kurorchesters“ genießen - beides unterliegt den Zeitläufen. Dass vieles davon vor Jahrzehnten einmal ganz anders war, dokumentiert das Notenarchiv. Peter Krank: „Wir sind Johannes Lenz sehr dankbar, dass er sich, eigentlich im Ruhestand, noch weiterhin mit der Archivierung beschäftigt und sie als Fachmann zu Ende gebracht hat.“


Kleine Chronologie der Kurorchester:
Die Geschichte der Kurorchester in Bad Nauheim lässt sich bis ins Jahr 1851 verfolgen. Circa 14 Musiker aus „böhmischen Musikanten“ umfasste die „Musikgesellschaft“ unter Leitung von Franz Moritz Bohne. Ein Vierteljahrhundert später stieg die Zahl der Mitwirkenden in dem Ensemble bereits auf 34 Konzertierende. In 1899 ist den Annalen zu entnehmen, dass das Kurorchester über 50 Musiker verfügte. Selbst zu Zeiten des Ersten Weltkriegs gab es in Bad Nauheim Kurkonzerte. Das Dirigitat des Windersteinorchesters führte dabei von 1904 bis 1925 Hans Winderstein. Zu Beginn der 1930er Jahre konzertierte das Städtische Orchester Mainz in Bad Nauheim, von 1935 bis 1941 das Gießener Orchester unter Willy Naue. Nach Kriegsende versuchte Naue von 1948 bis 1958 wieder in Bad Nauheim ein 50-köpfiges Kur- und Sinfonieorchester aufzubauen. Von 1958 bis 1966 konzertierte das städtische Orchester in Gießen in der Wetterauer Kurstadt. Die 70er Jahre sind von vielen Dirigentenwechseln bestimmt. Bis 1987 zunächst Professor Tamás Benedek, der die Leitung eines ungarischen Orchesters mit zwölf Profi-Musikern übernimmt und anschließend Janos Kekesi. Bis 2010 spielte das Ensemble in den Sommermonaten zwei Mal täglich vor dem Kurhaus und in den Wintermonaten im Saal in Quartett-Besetzung.


Und noch immer können Bürger*innen und Gäste in den Genuss kommen: Die Konzerte der „Neuen Kurmusik“ sind - derzeit openair - in der Trinkkuranlage jeweils freitags um 19.30 Uhr und samstags ab 16 Uhr sowie sonntags in einer Matinée ab 11 Uhr oder ebenfalls ab 16 Uhr zu erleben.